Carrie Anne
Carrie Anne war eine Frau, die nie ganz in die Welt zu passen schien, in der sie lebte. Von klein auf trug sie etwas in sich, das sich schwer in Worte fassen ließ – eine Mischung aus Neugier,
Unruhe und einer tiefen Sehnsucht nach Dingen, die sie selbst kaum begreifen konnte. Ihre Augen, ein dunkles Grün, funkelten oft wie im Gespräch mit etwas Unsichtbarem, als ob sie in einer anderen Realität lebte,
parallel zu der, die alle anderen für selbstverständlich hielten. In ihrer Kindheit sprach sie wenig, aber wenn sie es tat, dann mit einer Klarheit und Tiefe, die selbst Erwachsene verstummen ließ.
Sie fragte nie nach dem Offensichtlichen, sondern nach dem, was zwischen den Zeilen lag. Warum das Licht in manchen Zimmern kälter schien als in anderen.
Warum bestimmte Melodien selbst dann traurig klangen, wenn sie in Dur geschrieben waren. Warum manche Menschen leer wirkten, selbst wenn sie lachten.
In der Schule war Carrie Anne ein Rätsel für Lehrer wie Mitschüler. Ihre Noten schwankten zwischen brillant und gleichgültig, je nachdem, ob das Thema ihr Herz berührte.
Sie liebte die Literatur, aber nicht wegen der Geschichten allein, sondern wegen der Schatten, die sie warfen. Gedichte konnte sie auswendig sprechen, als wären sie Gebete, und Romane las sie, um in fremde Seelen zu schauen.
Mathematik hingegen war für sie ein Käfig aus Regeln, die sie nicht spüren konnte. Was man nicht fühlen konnte, interessierte sie nicht.
Mit Anfang zwanzig verließ Carrie Anne ihre Heimatstadt ohne Abschied. Niemand wusste genau, wohin sie wollte. Es hieß, sie sei nach Süden gefahren, weil sie irgendwo gelesen hatte, dass dort das Licht anders fällt.
Sie verdiente ihr Geld mit Gelegenheitsarbeiten – in einem alten Kino, in einer Buchhandlung, in einem kleinen Café, das den ganzen Tag Jazzmusik spielte. Sie lebte sparsam, sammelte Bilder,
alte Notizbücher und Fundstücke vom Flohmarkt. Oft saß sie stundenlang auf Parkbänken und zeichnete Gesichter, die sie nie wiedersehen würde.
Manchmal schrieb sie Briefe an Menschen, die sie nie getroffen hatte, um ihre Gedanken irgendwohin zu schicken, wo sie vielleicht gebraucht wurden.
Liebe war für Carrie Anne kein Ziel, sondern ein Zustand, in dem sie manchmal verweilte. Sie verliebte sich selten, aber wenn, dann mit einer Intensität, die alles andere zum Schweigen brachte.
Ihre Beziehungen waren oft flüchtig, nicht aus Mangel an Gefühl, sondern weil sie das Gefühl hatte, dass alles, was zu lange blieb, an Farbe verlor.
Vielleicht war das der Grund, warum sie immer wieder weiterzog, warum sie nie wirklich irgendwo ankam, obwohl sie immer suchte. Sie suchte nicht nach einem Ort, sondern nach einem Moment, der sich wie Zuhause anfühlte.
Die Menschen, die ihr begegneten, erinnerten sich an sie – nicht immer namentlich, aber an ihr Lächeln, das nie vollständig war, oder an die Art, wie sie schweigen konnte, ohne dass es unangenehm wurde.
Sie hinterließ Spuren, aber keine Fußabdrücke. Ihre Geschichte war keine, die man in Chronologien erzählen konnte, sondern eine aus losen Fäden, Andeutungen, Gesten.
Vielleicht war das ihr größtes Geheimnis: dass sie nie ganz da war, aber auch nie ganz weg.
Irgendwann, so sagen einige, verschwand Carrie Anne spurlos. Andere behaupten, sie habe sich in einer kleinen Hütte am Rand eines Fjords niedergelassen, um das Meer zu beobachten und endlich zu schreiben.
Wieder andere meinen, sie sei in einem Nachtzug Richtung Norden gestiegen, mit nichts als einem Notizbuch und einer alten Kamera. Was wirklich mit ihr geschah, weiß niemand.
Aber manchmal, wenn irgendwo eine Melodie durch ein offenes Fenster schwebt oder ein Gedicht auf einem Parktisch liegt, denken die Menschen,
dass sie vielleicht gar nicht verschwunden ist – sondern einfach weitergezogen, dorthin, wo es wieder etwas zu spüren gibt.